Auf den Spuren der
Armut in der Schweiz

Es gibt sie – Armut in einem reichen Land wie der Schweiz. Die Coronakrise hat die Problematik noch verschärft. Wie sieht das Leben von armutsbetroffenen Menschen aus? Wie gerät man in den Strudel der Armut? Und wie funktioniert das umstrittene Sozialhilfe-System? Eine Bestandesaufnahme in drei Akten.

von Noah Salvetti
Blick auf Boote und Yachten: In Zürich leben Arm und Reich Seite an Seite.

Kapitel 1

Vom Topverdiener zum Randständigen: Warum Hans Peter Meier in Armut zufriedener ist

Hans Peter Meier arbeitete ununterbrochen und verdiente gutes Geld. Dann wurde er obdachlos. Heute lebt er nicht mehr auf der Strasse, aber noch immer in Armut. Wie er dorthin geriet und warum ihn dieses Leben glücklicher macht.

Lebt von Surprise-Stadtführungen und Strassenverkäufen: Hans Peter Meier (63).

«Du bisch dä vom Bellevue, gäll?», fragt ein Passant, während Tauben Brotkrümel vom Boden picken. Hans Peter Meier, Strassenverkäufer und Stadtführer beim Verein Surprise, sitzt auf der Parkbank vor der St. Jakobskirche beim Stauffacher und nickt. Der Wind wirbelt sein lichtes graues Haar auf. «Letztes Mal hattest du eine bessere Frisur», sagt der Unbekannte. Er beschwert sich über einen Bettler. «Ich hätte wirklich Lust, so einen mal richtig zu vermöbeln. Aber du bist ein Netter, dir mache ich nichts», sagt der Fussgänger, bevor er weitergeht.

«Am Anfang war die Arbeit die Droge, dann
kam der Alkohol dazu.»

Hans Peter Meier ist kein Unbekannter. Einst ein gefragter IT-Spezialist, lebt der 63-jährige heute vom Verkauf des Strassenmagazins Surprise und von den Rundgängen durch Zürichs Strassen, bei denen er interessierten Menschen die Stadt aus der Perspektive von Randständigen zeigt. In seiner grell roten Jacke mit dem Surprise-Schriftzug und der passenden Mütze erkennt man Meier bereits von weitem, wenn er vor der Bellevue-Apotheke – seinem Stammplatz – um Käufer*innen wirbt. «Wegen Corona ist der Hefteverkauf stark eingebrochen, weil die Leute weniger unterwegs sind», sagt er. Ausfälle, die sich bemerkbar machen, denn Hans Peter Meier führt ein Leben unter dem Existenzminimum.

Zürich aus der Sicht von Hans Peter Meier

Arbeitssucht, Alkohol, Armut

Nach einer Fotografenlehre, die er aus Passion absolvierte, zog es Meier in die boomende IT-Branche, in der er 15 Jahre lang als Softwarespezialist arbeitete. «Ich musste 365 Tage im Jahr rund um die Uhr erreichbar sein», sagt er. «Das sind wahnsinnige Belastungen.» Oft arbeitete er 16 Stunden pro Tag. Dann begann er, zu trinken. «Am Anfang war die Arbeit die Droge, dann kam der Alkohol dazu.» 2001 platzte die Dotcom-Blase, IT-Unternehmen bauten unzählige Stellen ab. Die Krise kostete schliesslich auch Hans Peter Meier seinen Job. «Doch ich war optimistisch und hatte einiges zu kompensieren. Ich kündigte meine Wohnung und verreiste. Ich dachte, die Krise würde vorbei sein, wenn ich zurückkehre.»

Was wie ein Ticket in die Freiheit schien, war für ihn das Ticket in die Armut. «Das RAV hatte natürlich keine Freude daran, dass ich mich neun Monate nicht um eine Stelle bemüht habe. Ich erhielt eine Zahlungssperre, und irgendwann war das Geld weg», sagt Meier. Die nächste Station war das Sozialamt. «Das war extrem hart. Vor allem, weil ich ein sehr freiheitsliebender Mensch bin und mich schnell eingeengt fühle»

«Die Stadt tut alles dafür, um den Menschen vorzuspielen, es gäbe hier keine Probleme.»

Das Areal der St. Jakobskirche zieht viele Randständige an. «Einer von drei Orten in Zürich, die Kirchenboden sind», erklärt Hans Peter Meier. «Hier kann einem die Polizei nichts anhaben», schildert er und zeigt auf den überdachten Hintereingang der Kirche. «Das hier ist ein beliebter Schlafplatz für Obdachlose, weil er wettergeschützt ist. Hier wird oft übernachtet.» Problematisch sei jedoch, dass der Ort von weitem sichtbar sei und dass es streitlustige Partygänger*innen aus dem Langstrassenviertel hierhin nicht weit hätten. «Hier wurden schon oft Leute verprügelt», erzählt Meier. «Im Schlafsack hast du keine Chance, dich zu wehren.» Woher er das alles weiss? Meier lebte selbst anderthalb Jahre lang auf der Strasse.

Er deutet auf die Tramstation am Stauffacher. «Hier fängt die Gentrifizierung an.» Wo früher normale Parkbänke standen, findet man heute futuristisch anmutende Stehbänke zum Anlehnen. «Damit die Obdachlosen hier nicht schlafen können».

Nach seiner Rückkehr hielt sich der 63-jährige mit Gelegenheitsjobs über Wasser – bis er Ende 2008 begann, Surprise-Magazine zu verkaufen, arbeitete er unter anderem für die Stadtreinigung. Auf der Lutherwiese, auf der tagsüber Kinder fröhlich herumtollen, habe er früher haufenweise Spritzen und leere Flaschen aufgefunden. «Die Stadt tut alles dafür, um den Menschen vorzuspielen, es gäbe hier keine Probleme und wir lebten im Paradies. Dabei sieht man die Problematik einfach nicht mehr.» Ohne festen Wohnsitz übernachtete er erst auf der Strasse, dann oft im Lager des Unterhaltsbetriebs, bei dem er tätig war.

Bürokratische Hürden statt schnelle Hilfe

«Es ist viel schwerer, in einem reichen Land arm zu sein als in einem armen.» Ohnehin gehe man immer davon aus, dass es Armut in der Schweiz nicht gebe. Das habe man auch im ersten Shutdown bemerkt, als den gemeinnützigen Institutionen untersagt wurde, Mahlzeiten auszugeben, obwohl viele Bedürftige darauf angewiesen wären.

«Die Politik sagt, man könne ja Sozialhilfe beziehen, aber vergisst, dass viele das gar nicht möchten», sagt Meier. «Beim Sozialamt haben sie immer einen Hebel – wenn man sich nicht ganz regelkonform verhält, drücken sie dich runter.» Erschwerend komme viel Bürokratie hinzu, wenn man Hilfe vom Staat beanspruche. «Die knallen dir einen Riesenstapel Formulare auf den Tisch, die schon für Normalbürger*innen sehr anspruchsvoll sind. Einer, der 20 Jahre auf der Gasse war, rennt davon, wenn er sowas sieht.»

Die zwei Leben, die Hans Peter Meier führte, könnten unterschiedlicher nicht sein. So selbstverständlich, wie er sich früher ein Wochenende in Singapur gönnte – «Teuer, aber mit null Erholungswert» – lebt er heute in einem Mansardenzimmer für 600 Franken pro Monat. «Am Anfang haderte ich sehr mit der Situation», sagt Meier. Heute sei er viel zufriedener als früher. Er müsse zwar schauen, dass er über die Runden komme. «Aber die Freiheiten, die ich heute habe – die Unabhängigkeit und die Möglichkeit, meinen Arbeitstag frei einzuteilen – sind mir viel mehr Wert als das viele Geld, das ich verdient habe.» Ohnehin werde Armut zu oft nur über Geld definiert. Dabei könne man auch geistig oder körperlich arm sein. «Rein finanziell bin ich arm, aber ich leide nicht darunter. Und wer nicht leidet, ist nicht arm – innerlich fühle ich mich eher reich.»


Kapitel 2

DIE FACETTEN DER ARMUT: DREI FRAUEN ERZÄHLEN IHRE GESCHICHTE

Armut kann jeden und jede treffen − die Gründe dafür sind dabei so vielfältig wie die Menschen, die davon betroffen sind. Doch die Hemmschwelle, öffentlich über das persönliche Schicksal zu sprechen, ist gross:

«… Es ist jedoch erfahrungsgemäss sehr schwierig, Menschen zu finden, die bereit sind, über ihre Armut zu sprechen …»

So lauteten zahlreiche Antworten auf Gesprächsanfragen.

Andrea (47)*, Cornelia (39)* und Sandra (43)* waren dennoch bereit, ihre Geschichte zu erzählen. Sie alle mussten am eigenen Leib erfahren, wie schnell man in den Strudel der Armut geraten kann.

*Namen geändert.


Kapitel 3

«Rentnerinnen sind grössere Sympathieträger als Sozialhilfebezüger»: Interview mit Armutsexperte Alexander Suter

Sozialhilfe ist das Letzte aller Mittel im Kampf gegen Armut in der Schweiz. Ein Gespräch mit SKOS-Fachmann Alexander Suter über Bürokratie, Willkür und Definitionsschwierigkeiten.

Alexander Suter
(Bild: zVg)
Über Alexander Suter

Dr. Alexander Suter ist Leiter des Fachbereichs «Recht und Beratung» und Stv. Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Der nationale Fachverband für Sozialhilfe gibt die Richtlinien zur Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe heraus, die von den meisten Kantonen angewendet werden.

Herr Suter, gibt es Armut in der Schweiz?

Ja, es gibt sie, und man konnte sie während der Coronakrise auch sehen – etwa in Zürich, wo sich Menschen für Lebensmittelabgaben angestellt haben. Das betrifft zum Glück nur einen kleinen Teil der Menschen. Alles andere ist eine Frage davon, wie man Armut definiert.

Was ist denn die umfassendste Definition von Armut?

Die Armutsquote, die Stand 2019 8,7 Prozent beträgt, orientiert sich am sozialen Existenzminimum. Wer unter dem durchschnittlichen Grundbedarf liegt, gilt als arm – das ist eine Variante. Die Definition hat ein grosses Manko: Sie bezieht sich nur auf das Einkommen. Daher sind Rentner*innen, die zwar oftmals ein kleines Einkommen, dafür aber Vermögen besitzen, überproportional vertreten. Statistisch gesehen gelten sie als arm. Die neue experimentelle Statistik soll das Problem lösen: Nach dieser sind noch 2-4 Prozent der Bevölkerung arm.

Was sind das für Leute, die sich für Lebensmittel anstellen?

Wir haben ein starkes Sozialsystem mit mehreren Ebenen, um bedürftigen Menschen zu helfen. Die Sozialhilfe ist das Auffangnetz für alle, die keine andere Unterstützung erhalten. Sozialhilfeempfänger*innen müssen in der Regel nicht für Lebensmittelabgaben anstehen. Es gibt aber Menschen, die hier leben und keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, etwa Sans-Papiers oder vorläufig aufgenommene Ausländer*innen.

Das Existenzminimum

Im Zusammenhang mit Armut wird häufig vom sogenannten «Existenzminimum» gesprochen. Das Existenzminimum ist kein einheitlicher Begriff. So gibt es ein betreibungsrechtliches Existenzminimum, ein für die Ergänzungsleistungen relevantes und ein soziales Existenzminimum. Letzteres ist für die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), die die von den meisten Kantonen angewandten Richtlinien definiert, relevant und setzt sich aus situationsbedingten Leistungen und der materiellen Grundsicherung, also den Kosten fürs Wohnen und die medizinische Grundversorgung sowie dem Grundbedarf für den Lebensunterhalt (GBL) zusammen. Der Grundbedarf beträgt laut den aktuellen Richtlinien 997 Franken. Von diesem Geld müssen beispielsweise Lebensmittel, Verkehrsausgaben und persönliche Gegenstände bezahlt werden. Da es sich um eine Empfehlung handelt, schwankt das Existenzminimum je nach Wohnkanton, -Gemeinde und Einzelfall.

Weshalb gibt es kein einheitliches Existenzminimum, das für alle Lebensbereiche gilt?

Es besteht kein Interesse daran, allen Menschen ein soziales Existenzminimum in gleichem Umfang zu gewähren. Vorläufig aufgenommene Asylsuchende etwa müssen nicht im selben Masse an der Gesellschaft teilhaben können wie Menschen mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht. Zwischen den Systemen gibt es grosse Unterschiede, weil sie unterschiedlich gewachsen sind. Schliesslich schwingt auch ein Werturteil mit: Rentner*innen, die Ergänzungsleistungen beziehen, sind in der öffentlichen Debatte grössere Sympathieträger als Sozialhilfebeziehende, weil sie ihr Leben lang gearbeitet und Steuern bezahlt haben.

Viele Menschen beziehen schon sehr lange Sozialhilfe. Was wird dagegen unternommen?

Langzeitbezüge nehmen zu, obwohl die Sozialhilfe als Überbrückung konzipiert ist. Bei älteren Arbeitslosen etwa wurde ein grosser politischer Effort betrieben, um diese Personen ohne die Bürde der Sozialhilfe zu unterstützen. Für sie schuf man innert eines Jahres die Überbrückungsleistungen. Bei vielen anderen Personen hält man es für zumutbar, geringere Unterstützungen auszurichten. Man muss aber auch bedenken, dass in Sozialhilfeempfänger*innen viel Geld in Form von Kursen und Weiterbildungen investiert wird.

Lässt das Sozialsystem Willkür von Amtspersonen zu?

Die SKOS-Richtlinien sehen Bereiche mit und ohne Ermessensspielraum der Amtspersonen vor. Bei absolut notwendigen Dingen wie Medikamenten, die nicht aus dem Grundbedarf bezahlt werden können, besteht keiner, bei anderen Ausgaben schon. Idealerweise setzen die Behörden bei allen Personen dieselbe Messlatte an – als privater Verein haben wir aber keine Kontrolle über die Umsetzung.

Entwicklung der Armutsquote in der Schweiz seit 2014.

Viele Bedürftige beziehen der Freiheit wegen keine Sozialhilfe. Was halten sie davon?

Jede berechtigte Person soll selbst entscheiden, ob sie Sozialhilfe beziehen will. Anders sieht es aus, wenn z.B. Kinder im Spiel sind. Hier muss sichergestellt werden, dass ein Nichtbezug keine Nachteile hat. Die Behörde muss zudem alles Mögliche unternehmen, um die Leistungen all jenen zugänglich zu machen, die sie brauchen.

Wie zugänglich Sozialhilfe ist, entscheidet sich ja auch über das Mass an Bürokratie. Warum ist das Ganze so kompliziert?

Ein Kontoauszug reicht nicht, um zu entscheiden, ob eine Person Anspruch auf Hilfe hat oder nicht. Da muss sehr viel abgeklärt werden. Wir sagen aber auch ganz klar, dass in Notsituationen zuerst unterstützt und dann abgeklärt werden soll.

Warum schafft es die Schweiz nicht, einheitliche Regeln für die Sozialhilfe aufzustellen?

Bisher scheiterten alle Bemühungen, eine einheitliche Lösung einzuführen. Die Lösung mit den fachlichen, nachvollziehbaren SKOS-Richtlinien ist aktuell das Beste, was möglich ist. Trotz regionaler Unterschiede ist das System einigermassen harmonisiert.


Diese Arbeit entstand im Rahmen eines journalistischen Praxismoduls am Institut für Angewandte Medienwissenschaften (IAM) an der ZHAW.

Herzlichen Dank an die Organisationen Surprise, Caritas Zürich, Winterhilfe Schweiz, Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) sowie an die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) für die Unterstützung und Zusammenarbeit.

Redaktion:
Noah Salvetti